:chicken offbeat

es gibt themen, die beschäftigen einen immer wieder. gestern war man noch der überzeugung, die sache sei längst erledigt, im dunst des vergessens entschwunden, wie ehemalige bekanntschaften aus fernen zeiten. und plötzlich begegnet man ihnen wieder aufs neue, ganz überraschend, zum beispiel an einem samstagabend. sie lehnen im fahlen licht der dämmerung an einer strassenlaterne, rauchen eine zigarette und dann sprechen sie dich an:
'kennen wir uns nicht irgendwoher?'
der wind der erinnerung streicht um die häuserecke.

es gibt themen, denen man immer wieder begegnet. in meinem fall sind es zum beispiel paralleluniversen oder gebratene hühnerschenkel. neuerdings auch hühnerflügel (neudeutsch: 'chicken wings', wobei diese anglizistische variation keinerlei geschmackliche veränderung mit sich bringt). auf jeden fall hühner. paralleluniversen und hühner.

das interessiert sie nicht?
nein, klicken sie jetzt bitte nicht weiter - ich weiss ja, dass wir uns in einem flüchtigen medium bewegen, aber wir müssen darüber reden! jetzt! wenn wir es jetzt micht tun, kommt diese gelegenheit vielleicht nie wieder. vielleicht hätten wir - retrospektiv betrachtet - nicht einmal erahnt, wie wichtig es war, darüber zu reden, wenn wir es jetzt nicht tun. oftmals sind es gerade diese kleinen zufälle, die dem leben eine völlig neue wendung geben können.

wie beginnen wir also unsere unterhaltung? wir kennen uns ja noch garnicht. natürlich könnte ich einfach auf sie zugehen, mit einem kurzen kopfnicken meine gesprächsintention andeuten und sagen:
'hallo, ich interessiere mich für hühner und paralleluniversen!'
aber das wäre vermutlich der falsche einstieg. es würde sie erschrecken. es ist nicht die art von information, die sie an dieser stelle erwarten. vielleicht sind sie gerade unterwegs, weil sie ihre gestern gekauften schuhe umtauschen wollen oder fürs abendessen noch dringend einen becher saure sahne benötigen. auf jeden fall wären sie irritiert, wenn plötzlich ein paar aufgeschreckte hühner durch ihre persönliche situation flatterten und ihren geplanten tagesablauf durcheinander brächten.

ich könnte sie nach ihrem alter fragen, auch wenn mich die antwort natürlich nicht im geringsten interessiert. schliesslich bin ich selber durchaus in der lage, mir aufgrund des visuellen eindrucks meines gegenübers eine hinreichend exakte antwort auf diese frage liefern zu können. aber es ist zumindest ein einstieg.

er: hallo, wie alt sind sie?
sie: (bleibt stehen) ...???
er: ihr alter! wie alt sind sie?
sie: (irritiert) ...30, warum?
er: sie sehen jünger aus. das ist interessant. sind sie sicher, dass sie 30 sind?
sie: (ziemlich konfus, stirnrunzelnd) natürlich bin ich sicher - warum?
er: ich hätte sie jünger geschätzt.
sie: entschuldigung, aber ich muss noch dringend meine schuhe...
er: auf 29. ja, ich glaube, ich hätte sie auf 29 geschätzt. vielleicht sogar auf 28einhalb, aber niemals auf 30.
sie: ...?!
er: das ist bemerkenswert - eine frau, die bezüglich ihrer schuhe noch dringende unternehmungen in der kölner innenstadt zu tätigen hat und dabei versucht, wie eine 29-jährige auszusehen!
sie: (sprachlos) ...wieso...?!
er: darum habe ich sie angesprochen. das ist tatsächlich bemerkenswert! ich bemerke sehr schnell, wenn etwas ungewöhnliches geschieht.

tatsächlich geschieht hier etwas ungewöhnliches, das allerdings nichts mit dem alter der angesprochenen zu tun hat. ungewöhnlich ist allein der umstand, dass in dem gesamten gespräch lediglich eine einzige information ausgetauscht wurde: 30! sie ist 30 jahre alt. der rest ihrer kommunikation ist leer wie ein flußbett, das kein wasser führt. Es plätschert nicht einmal. die ufer, die das gespräch in die richtige bahn lenken könnten, sind vorhanden, aber die quelle ist versiegt. sumpfdotterblumen wachsen leuchtend gelb am ufer, ein frosch hüpft aus einer pfütze.

es würde an dieser stelle zu weit gehen, die genauen umstände klären zu wollen, die letztlich dazu führten, dass die beiden protagonisten dieser szene abends bei einem glas wein (genau genommen waren es zwei gläser, da jeder sein eigenes hatte) und einer (zwei) zigarette (zigaretten) zusammen in seinem wohnzimmer auf dem boden saßen und darauf warteten, dass die im ofen bruzelnden chicken-wings (sic!) einen verzehrgeeigneten idealbräunungsgrad erreicht haben würden. Es tut auch nichts zur sache, wie es dazu kam, dass sich die beiden mittlerweile duzten, denn unsere aufmerksamkeit fokussiert ausschliesslich auf den fortgang ihrer kommunikation:

er: ich habe es mir noch einmal überlegt...
sie: was denn?
er: die sache mit dem alter. diese geschichte von vorhin, du weisst schon.
sie: ja. und?
er: diese hühner hier zum beispiel ... ich könnte nicht sagen, wie alt sie sind. vermutlich sind sie keine 29, aber ich kann es nicht beweisen. ich wollte kein huhn sein. jedenfalls kein huhn, dass tranchiert in einem ofen schwitzt.
sie: wie kommst du jetzt darauf?
er: ich denke immer noch darüber nach, warum du versuchst, wie eine 29jährige auszusehen.
sie: also WAS hast du dir überlegt?
er: das willst du nicht wissen.
sie: würde ich dann fragen?
er: ja, würdest du.
sie: du hast recht. vermutlich würde ich.
er: warum stellst du mir fragen, deren antworten dich nicht interessieren?
sie: (seufzend, eine augenbraue hochziehend) ...WAS hast du dir überlegt?
er: ich habe keine ahnung, wie alt diese hühner sind. ich weiss nicht einmal, wie alt hühner überhaupt werden können. ich tendiere nicht dazu, mich als chronist auf hühnergeburtstagsparties aufzuhalten und empirische ermittlungen über das durchschnittsalter der anwesenden gäste zu tätigen.
sie: (an der zigarette ziehend) ...hast du noch einen schluck wein?
er: (ihr glas nachfüllend) wahrscheinlich liegt es an deinem kleid. ich glaube, es macht dich jünger. (lehnt sich zurück und betrachtet aufmerksam ihren körper, der auf durchaus attraktive art von einem blauen kleid umhüllt wird)
sie: sag doch einfach, dass ich dir zu jung bin...
er: nein, daran liegt es nicht. ich nehme dein alter nicht in relation zu meinem wahr, sondern als absoluten fakt. sozusagen aus einer außenperspektive. es ist wie es ist, unabhängig davon, wie alt ich bin.
sie: das stimmt nicht. du wirst genau so schnell älter, wie ich. und umgekehrt.
er: ja, natürlich. die relation bleibt gleich, aber der zeitpunkt meiner geburt steht in keinem kausalen zusammenhang zu deiner. wäre ich 10 jahre früher geboren, wärst du heute trotzdem 30. und würdest trotzdem aussehen wie 29.
sie: hast du schon einmal eine 29-jährige geküsst?
er: ja. damals war ich allerdings 36.
sie: und?
er: (stirnrunzelnd) ...und???
sie: na, wie war es?!
er: ich weiss nicht. ich glaube nicht, dass eine 29-jährige besser oder schlechter küsst als eine 30- oder 35-jährige. vermutlich haben küsse kein eigenes alter. (überlegt)
sie: (ihn nachäffend) ...kein eigenes alter, kein eigenes alter! achtest du auf die chicken-wings? nicht, dass sie verbrennen.
er: die hühner ... ich versuche, sie mir in einem blauen kleid vorzustellen, aber es bleibt ein rätsel. ich weiss einfach nicht, wie alt sie sind.
er: ...
er: moment, ich schaue sie mir nochmal an... (geht in die küche)

es gibt themen, die begegnen einem immer wieder. hühner und paralleluniversen zum beispiel. übrigens: haben sie es bemerkt? in der unterhaltung unserer beiden exemplarischen helden kam der begriff 'paralleluniversum' nicht ein einziges mal vor. vielleicht reden sie morgen darüber - ich weiss es nicht. ich weiss nicht einmal, warum sich solche statischen begriffe immer wieder an den unmöglichsten stellen in bestimmte lebenskontexte schleichen. sie sind die ritardierenden melodiephrasen in der polyphonie des lebens. der offbeat zum eigentlichen thema.

aber auf jeden fall hatten wir damit gelegenheit, uns über dieses phänomen einmal grundsätzlich zu unterhalten. und wir haben sie genutzt. gut, dass wir darüber gesprochen haben - ich bin gespannt, was nun daraus resultieren wird...


 

 

     
   
 

 

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